Damit der Drachen steigen kann (interview)

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This interview was released in the German magazine "128", issue 03/2014, which is the official magazine of the Berliner Philharmoniker.

Interview

Das Drum-Duett: Raphael Haeger, Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker, und Christoph Schneider, Drummer der Metal-Band Rammstein, im Gespräch.

ZWEI SCHLAGZEUGER, Mitglieder in deutschen Ensembles, die zur internationalen Spitze zählen - aber in zwei musikalischen Welten unterwegs sind, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Raphael Haeger, seit 2004 Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker, und Christoph Schneider, Drummer der Industrial-Metal-Band Rammstein.
So unterschiedlich ihr Repertoire auch sein mag, so überrascht doch manche Gemeinsamkeit: Raphael Haeger wurde musikalisch durch seinen Vater geprägt, der leidenschaftlicher Gitarrist in einer Rockband war. Schon mit vier Jahren wünschte er sich sein erstes Drum-Set, saß als Jugendlicher aber genauso gerne am Klavier und spielte in mehreren Jazzbands, für die er auch Arrangements schrieb. Und er konnte sich lange nicht entscheiden, welches der beiden Instrumente er zum Beruf machen sollte.
Auch Christoph Schneider wurde musikalisch durch seinen Vater geprägt, den Berliner Opernregisseur und Hochschullehrer Martin Schneider. Der hätte es zwar deutlich lieber gesehen, wenn sein Sohn dem klassischen Trompetenspiel treu geblieben wäre; dennoch bekam Christoph mit 14 sein erstes Schlagzeug - mit weitreichenden Folgen: 1994 gründete er mit Till Lindemann, Richard Z. Kruspe, Oliver Riedel, Paul Landers und Flake Lorenz die Band Rammstein, die derzeit weltweit erfolgreichste Band aus Deutschland. Konzerte der Berliner Philharmoniker besucht Schneider nach wie vor, aber persönlich kannten sich er und Raphael Haeger vor diesem Drum-Duett noch nicht.

Was dachten Sie spontan, als Sie hörten, wir bitten Sie beide zum Doppelinterview?
Schneider: Erst dachte ich: Weltklasse! Dann: Wieso ich? Und schließlich: Ja, gerne.
Haeger: Mir ging durch den Kopf, dass wir als Jugendliche bestimmt viele Gemeinsamkeiten hatten, ohne es zu wissen, und dass es mich reizt, heute nach den Unterschieden zu suchen.

Sehen Sie Gemeinsamkeiten in den Kunstformen, in denen Sie beide auftreten?
Schneider: Unsere Show läuft Abend für Abend wie am Schnürchen ab, von der Songauswahl über aufwendige Pyrotechnik bis hin zu den Lichteffekten. Letztlich funktionieren wir also ähnlich wie die Philharmoniker: Unser Geheimnis liegt darin, jeden Tag so toll wie möglich zu spielen. Aber das wirklich Kreative ist das Songschreiben, darüber diskutieren wir auch viel heftiger.
Haeger: Gott sei Dank haben wir diese Songschreiberei nicht! Da würde sich jeder seine eigene Bridge ausdenken, und als gemeinsamer Nenner käme am Ende doch immer nur ein Blues raus — da würde man ja wahnsinnig! Wir haben auch keine so stark choreografierte Bühnenshow wie ihr bei Rammstein. Bei uns ist an jedem Abend erstaunlich viel offen.

Offen?
Haeger: Ja, weil wir viele starke Egos haben: Musiker mit viel Erfahrung als Solisten, mit der Erfahrung, ein Orchester als Einzelperson zu führen. Diese kleinen Veränderungen sind für uns der Kick am Abend. Die reißen’s raus und auch uns als Schlagwerker mit. Ein Hornist spielt zum Beispiel seine drei Töne Solo plötzlich Völlig anders als beim letzten Mal, sozusagen als Kammer- musik im Großen. Dieses Beisteuern ist häufig der Kniff, der intuitiv und mit einem Schlag alles ändert — für uns alle. So etwas gibt dann den Impuls, dass das Konzert abhebt. Idealerweise passiert so etwas alle paar Minuten.

Welche Rolle hat da der Schlagzeuger?
Schneider: Bei uns ist der Drummer das Knochengerüst eines Stücks. Der spielt immer!
Haeger: Der Orchesterschlagwerker, der auf seinen Einsatz wartet, hat eine völlig andere Funktion. Wir sind fast nie fürs Timing oder das Tempo verantwortlich, sondern für Farbtupfer, Einsprengsel, kleine Motive, die sich vernetzen.
Schneider: Aber dann, im entscheidenden Moment X voll da zu sein, das ist für mich die Herausforderung, wenn ich an euch denke. Dann cool genug zu sein, richtig zu spielen! Ich kenne diese Aufregung nur vor dem Konzert, vor dem ersten Schlag.

Herr Haeger, anders als Christoph Schneider bleiben Sie als Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker gelegentlich draußen vor der Tür.
Haeger: Ja, immer dann, wenn die Philharmoniker Brahms, Beethoven oder Bruckner spielen. Das habe ich mit den Jahren kompensiert, indem ich anfing, Dirigieren zu studieren. So habe ich auch einen tieferen Einblick bekommen, was die Streicher da vorne eigentlich genau machen. Und ich habe damit letztlich meinen "Klassikkomplex" aufgearbeitet und weiß jetzt genauer, wohin für mich die Reise geht.

Wie viel Selbstvergessenheit im Spiel können Sie sich in Ihren jeweils exponierten Situationen eigentlich erlauben?
Schneider: Wenn die Interaktion zwischen mir und meinem Instrument stimmt, kann ich spüren, wie ich manchmal die ganze Band in diesen Sog ziehe. Aber beim Schlagzeug kann mechanisch viel kaputt gehen. Es kommt selten vor, aber es kommt vor, dass einem die Technik dabei im Weg steht, ganz im eigenen Spiel aufzugehen.
Haeger: Eigentlich kann ich mich kaum daran erinnern, dass einmal wirklich zwei Stunden am Stück alles nach Plan gelaufen wäre. Da muss nur irgendwo eine Tür aufgehen, und schon verstimmt sich die Pauke. Ständig muss man irgendwo lenken. Der Begriff Flow ist ja gerade sehr modern, und sicher hilft es dem Publikum, sich beim Hören in diesen Flow fallen zu lassen. Aber bei uns läuft der Intellekt immer mit.
Schneider: Das ist der Grat, auf dem wir wandeln: unser Spiel zu kontrollieren, ohne es zu kasteien.
Haeger: ...und immer die Fäden in der Hand zu halten, damit der Drachen steigen kann.

Halten bei Rammstein alle sechs Mitglieder die Fäden gleich fest in der Hand?
Schneider: Von der Dynamik her sind wir eine demokratische Truppe. Es gibt keinen Chef, alle dürfen mitreden, aber keiner darf zu weit aus der Reihe ausscheren. Jeder darf Ideen einbringen, aber mindestens vier von uns sechsen müssen eine Idee gut finden, damit sie weiter verfolgt wird. Doch ich gebe zu, wir mussten unsere gelebte Demokratie erst lernen.
Haeger: Anders als ihr entscheiden wir die Show nicht selbst. Unsere "Demokratie" wird bei 128 Mitgliedern natürlich ganz anders gesteuert als bei euch — von vorne. Wie kann man eine spektakuläre Bühnenshow wie die von Rammstein "demokratisch" erfinden?
Schneider: Oft schaukeln wir uns gegenseitig hoch und setzen immer noch einen drauf, nach dem Motto: Wenn schon, dann richtig! Auf diese Weise lernt man Sachen mitzutragen, die einem allein viel zu extrem wären. Über die Kunstspermakanone, mit der Till Lindemann, unser Sänger, Schaum in den Zuschauerraum katapultiert, waren wir geteilter Meinung. Bei dem Menschenfresser-Song "Mein Teil"‚ bei dem Till mit Schlachterschürze und Kochmütze blutbeschmiert in den Griff eines riesigen Fleischmessers singt, fanden wir dagegen alle sechs: Das passt perfekt zum Text und bildet eine super Einheit mit dem Song.

Hätten Sie gerne ein wenig vom Leben des anderen?
Schneider: Ich hätte gerne ein bisschen was von eurem geregelten Leben. Ihr seid angestellt, geht fast jeden Abend ins selbe Haus, fahrt ab und zu mal weg und habt Kontakt zu relativ vielen Menschen.
Haeger: Das sagt einer, der vor 10.000 Menschen auf einmal auftritt!
Schneider: Ja, aber wir haben oft monatelang frei, keine Proben und kein System mit sozialer Anbindung, in dem Wir nach Ende einer Tournee Weiter funktionieren — ganz anders als ihr.

Das heißt, Sie hängen den Rockmusiker für Monate regelrecht in den Schrank?
Schneider: Klar. Wir haben jetzt ein halbes Jahr lang nicht gespielt. Das Album ist "betourt"‚ wie man so sagt. Erst demnächst gehen wir wieder in uns und schreiben neue Songs. Da war es schon sehr eigentümlich, mich heute für das Foto in Schale zu werfen. Wenn man als Band gemeinsam altert, braucht man zwischendurch den räumlichen Abstand voneinander, weil man sich nach 25 Jahren einfach zu gut kennt — und sich sonst zu sehr auf den Geist ginge. Wir alle brauchen diesen Freiraum für neue Inspirationen.

Inspiriert wurden Sie in Ihrer Jugend beide vom Rock und von der Klassik.
Haeger: Bei uns war Rockmusik erst mal das bestimmende Element. Aber wenn mein Vater abends nach Hause kam, spielte er Schumann am Klavier. Mein Kinderzimmer lag direkt neben dem Musikzimmer, und ich schlief bei geöffneter Tür hunderte Male selig ein. Insofern war die Klassik schon auch ein Elixier für mich.

Aber bei Weitem nicht so elektrisierend wie die Musik, die Ihr Vater Ihnen vorlebte...
Haeger: Mein Vater hatte eine Rockband. Mit fünf wünschte ich mir mein erstes Schlagzeug. Als ich elf war, wollte ich unbedingt selbst eine Band. Weil ich dafür natürlich viel zu jung war, stieg mein Vater bei uns mit ein, und so durfte ich schon als kleiner Junge in den Tuttlinger Kneipen auftreten. Stolz wie Bolle war ich. Das war mein Himmel auf Erden.
Schneider: Die kannten dich dann ja alle! Wahnsinn!
Haeger: Ich weiß noch, welche Macht der Drummer hatte, wenn wir richtig rockige Sachen spielten, Genesis und ähnliches. Auf diese positive Seite der Macht in einer Band bin ich immer noch ein bisschen neidisch.
Schneider: Wenn du schlecht spielst, spielt die ganze Band schlecht, aber wenn du gut spielst, grinsen dich die anderen an und du ziehst du alle mit. Das war in meiner Jugend das Schönste. Aber der Weg zu meinem Glück als Musiker war länger als bei dir. Meine Mutter war Musiklehrerin, mein Vater Opernregisseur. Bei uns wurde ausschließlich Klassik gehört. Ich saß als Kind ständig in Operninszenierungen und musste natürlich auch ein Instrument lernen. Mit Klavier hab ich angefangen.
Haeger: Wie ich! Aber ich konnte nicht gut Noten lesen. Am Klavier bekam ich immer eins drauf, während ich mit zwölf Jahren am Schlagzeug schon der Hero war.
Schneider: Mit zwölf spielte ich noch Trompete im Jugendorchester, einem hundertköpfigen Blasorchester. Als zweiter Flügelhornist saß ich direkt vor den Schlagwerkern und guckte immer, was die da hinten machten. Das waren die Coolen, die lässig an ihrer Snare Drum saßen, da wollte ich einfach dazugehören. Also fing ich an, auf meinem selbstgebastelten Karton-Schlagzeug zu üben. Rockmusik kannte ich ja nicht. Die einzige moderne Platte, die ich bei meinen Eltern fand, war die Rockoper "Jesus Christ Superstar". Als ich mit 13 die Trompete hinschmiss, brach für meine Eltern eine Welt zusammen. Um es ihnen nachträglich recht zu machen, wollte ich wenigstens an der Musikhochschule klassisches Schlagzeug studieren. Ich wurde aber zweimal nicht genommen — obwohl mein Vater da Professor war.

Ihre Väter leben auf unterschiedliche Weise nach wie vor Musik. Wie ist es bei Ihnen mit der Angst vor dem Alter?
Schneider: Als Rockmusiker hat man immer Angst davor. Andererseits: Wenn ich mir Mick Jagger ansehe, denke ich, da geht noch was. Die Stones sind mit ihrem Publikum ja auch erfolgreich gealtert. Aber Schlagzeuger bei Rammstein zu sein, das ist schon eine sehr physische Sache. Du musst laut, musst doll spielen, und das ganze muss auch ein bisschen nach was aussehen. Mit 70 klingt und wirkt das dann vielleicht nicht mehr so.
Haeger: Bei uns ist der große Kick das Leise-Spielen. Diese sehr feinen, kleinen Bewegungen, die werden irgendwann im Alter flöten gehen. Aber das schiebt man weg, solange es noch geht. Wobei ich jetzt schon spüre, wo ich meine Feinmotorik bewusster am Laufen halten und mehr investieren muss, um die Geschwindigkeit aus meiner Studentenzeit mit mehr Erfahrung auszugleichen.
Schneider: Dabei spielt ihr als klassische Schlagzeuger in einer anderen Liga als wir. Was du machst, ist viel anspruchsvoller als das, was ich abliefere. Wenn ich mich nach zehn oder zwanzig Konzerten eingespielt habe, spiele ich im Schlaf. Dann muss ich auch gar nicht mehr viel üben.

Ist Ihnen wichtig, wer zu Ihren Konzerten kommt?
Schneider: Erst mal darf jeder zu uns kommen, der uns interessant findet. Das sind weltweit ganz unterschiedliche Menschen, darunter auch viele Freaks und Menschen, die anders denken und sich in ihren Fantasien durch harte Musik und deutsche Texte angesprochen fühlen. Es kommen aber auch sogenannte ganz normale Menschen.
Haeger: Ich habe tolle Erfahrungen gemacht, als ich, damals noch an der Oper in Mannheim, eine Jazzreihe spielte, zu der das klassische Opernpublikum kam — siebzigjährige Damen im Pelzmantel haben sich meinen Hard Bop angehört! Man würde denken, das ist doch eigentlich nix für diese Leute. Aber die identifizierten sich mit dem Haus und fanden die Musik überraschend toll. Dieses Publikum hätte ich niemals gegen Jazzfreaks eintauschen wollen.

Wie poetisch kann das Schlagzeug jenseits von Hard Bop eigentlich sein?
Haeger: Das kommt ganz auf die Musik an. Ich würde zum Beispiel die Farben, die eine Geige erzeugt, gar nicht über den Klangreichtum der Percussion stellen. Man kann auch mit hintereinandergelegten Beats Flächen erzeugen.
Schneider: Es gibt ja genug Instrumente im Schlagwerk, die Melodien spielen können, da wird's dann sicher auch poetischer.
Haeger: Es ist doch immer die Frage, was die Musik braucht. Das Schlagzeug kann bei allem mithalten, so wie man auch mit einer Flöte gruselig spielen und mit einer Harfe schockieren kann. Es muss nur das passende Umfeld da sein. Das ist beim Schlagzeug genauso.

Haben Sie als Musiker noch Träume?
Schneider: Manchmal denke ich, was machen wir da eigentlich für ein Theater, angemalt im Gesicht, mit Explosionen auf der Bühne und Klick im Ohr? Wir sind doch erwachsene Menschen! Andererseits habe ich mit meiner Band etwas erreicht, was ein Teil meines Lebenstraumes war: im Riesenstadion vor Menschenmengen aufzutreten. Und das macht mir immer noch enorm viel Spaß, genauso wie ein neues Album zu erarbeiten. Trotzdem gibt es darin natürlich etwas Statisches‚ das wir als Band, ähnlich wie ein Orchester, nicht überschreiten können — gefangen in unserer Partitur, nach der alles abläuft. Wenn ich immer wieder mal mit neuen Ideen ankomme und mich im Jazz verwirklichen will, schlagen meine Kollegen regelmäßig die Hände überm Kopf zusammen. Ich wäre happy, eine Feierabend-Alt-Herren-Dreimann-Band zu haben, wo alles etwas offener ist und man eher intuitiv zusammenspielt.
Haeger: Das mache ich auf alle Fälle noch: dorthin zurückkehren, wo ich hergekommen bin.
Schneider: Und in der Kneipe nebenan spielen?
Haeger: Ja, zusammen mit ein paar Jungs aus der Nachbarschaft am Samstagnachmittag einen Kasten Bier leer proben. Das wird’s sein!