MAZ 2016 Flake (interview)

From RammWiki

This interview was published on 29 March 2016 on the website of German newspaper MAZ here.

Original

Die Musik von Rammstein ist knüppelhart, ihr Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz ist es nicht. Als seine Katze starb, konnte er nicht aufhören zu weinen. Im Interview mit der MAZ spricht er über seine Ängste, Sex unter Alkoholeinfluss und warum Rammstein, verglichen mit seiner Ex-Band Feeling B, ein schwerfälliger Koloss ist.

Potsdam. Der 49-jährige Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz war Mitglied von Feeling B, einer legendären Punk-Band in der DDR. Seit 1994 spielt er bei Rammstein, mit denen er weltweit in ausverkauften Stadien und Arenen gespielt und fast 20 Millionen Tonträger verkauft hat.

Ihr Hörbuch „Der Tastenficker“ klingt wie die Geschichte eines Jungen, der einfach losspaziert. Wo gehen Sie am liebsten lang?
Christian Flake Lorenz: Ich bin immer noch total gerne im Nordosten von Brandenburg unterwegs. Kaum aus der Stadt raus, fängt hinter Wandlitz ein riesiges Waldgebiet an. Ich spaziere stundenlang und treffe keinen einzigen Menschen. Schon als Kind war ich gerne dort.

Wie war das?
Lorenz: Wir gingen mit einer Geduld Blaubeeren sammeln, die heute niemand mehr aufbringt. Drei Stunden waren wir unterwegs. Die Mücken hatten uns zerstochen, aber die Kannen waren randvoll mit Beeren. Als Belohnung gab’s die abends mit Milch. Wenn ich meinen Kindern heute sage, sie sollen im Wald sammeln gehen, kommen sie mit fünf Beeren zurück und haben keine Lust mehr.

Und Sie selbst, sind sie noch so geduldig?
Lorenz: Ja – weil ich bei jeder Wanderung Ausblicke erlebe, die ich noch nicht kenne. Übrigens biege ich auf vertrauten Wegen gern absichtlich falsch ab.

Im Central Park in New York sorgte das für Ärger.
Lorenz: Aber ohne Absicht. Da ging ich ganz friedlich einen Weg am Teich entlang. Mir kamen Jogger entgegen, die winkten und etwas sagten, das ich nicht verstand. Ich dachte, die wünschen mir einen guten Morgen. Dann kam ein Parkwächter in Uniform, der mich zurechtwies. Ich war nicht in der vorgeschriebenen Laufrichtung spaziert. Was für eine bescheuerte Regel. Normalerweise meide ich ohnehin Orte, an denen so viele Menschen sind.

Wo gehen sie hin?
Lorenz: In fremden Städten suche ich zuerst den Fluss und stromer dort herum. Da finde ich ungenutzte Plätze oder setze mich auf alte Schlepper, um stundenlang zu lesen. Ich muss manchmal aufpassen, unser Konzert nicht zu verpassen.

Sie mögen marode Orte lieber als Sehenswürdigkeiten.
Lorenz: Marode Orte haben eine Geschichte zu erzählen, sie beflügeln die Fantasie. Ein plattgelatschter Touristen-Stützpunkt kann das nicht. Ich will nie das machen, was alle machen. Mag sein, dass das mit meiner Punk-Zeit zu tun hat.

Wie kamen Sie damals überhaupt zur Musik?
Lorenz: Das habe ich einem Unfall zu verdanken.

Was war passiert?
Lorenz: Ich bin beim Wandern von einem Auto überfahren worden. Es fuhren kaum Autos zu der Zeit, aber die, die es gab, fuhren für ihre Verhältnisse sehr schnell. Ich musste auf der Straße gehen, weil es keinen Weg gab – und der Autofahrer dachte wohl, es kommt eh kein Gegenverkehr. Ich brach mir etliche Knochen.

Aua.
Lorenz: Ja, ich musste für lange Zeit ins Krankenhaus. Deshalb schenkte mir mein Vater einen Minett-Kassettenrecorder. Das war der größte erreichbare Reichtum für ein zehnjähriges DDR-Kind. Ich nahm Songs von Sendern aus dem Westen auf. Vor allem aus der Sendung von dem Radio-DJ Lord Knud, da habe ich zum Beispiel das erste Mal The Clash gehört. Der hat auch Witze über die DDR erzählt.

Zum Beispiel?
Lorenz: Ein Mann kommt in den Himmel, sieht so komische Uhren und fragt einen anderen, was die anzeigen. Da sagt der: ‚Immer, wenn in einem Land das Menschenrecht verletzt wird, geht der Zeiger langsam einen Schritt weiter.‘ ‚Und wo ist die Uhr von der DDR?‘, fragt der Mann und der andere antwortet: ‚Für die haben wir einen Ventilator.‘

Waren Sie ein rebellisches Kind?
Lorenz: Überhaupt nicht. Ich habe es als naturgegeben hingenommen, dass man tut, was die Erwachsenen sagen. Es war verrückt, später selbst Entscheidungen zu treffen.

Im Hörbuch sagen Sie, das Schönste am Erwachsensein sei, manche Sachen nie wieder machen zu müssen.
Lorenz: Zum Beispiel werde ich nie wieder einen Schlafanzug tragen. Heute schlafe ich im T-Shirt oder nackt. Das hätte mein Vater nie erlaubt. Ich will keine Dinge mehr machen müssen, weil man die halt so macht.

Was für Dinge?
Lorenz: Diese Pflicht, mit Verwandten Kaffee zu trinken. Man sitzt am Tisch, hat sich nichts zu sagen und der Kuchen schmeckt nicht. Entweder man versteht sich – dann kann man sich kümmern, oder man versteht sich nicht – dann muss ich aber auch nicht zum Pflichttreffen. Ich mochte das schon als Kind nicht, habe es aber einfach gemacht.

In Ihrem Buch beschreiben Sie viele Ängste, die Sie als Kind hatten.
Lorenz: Manche Ängste gehen nicht weg. Ich bin noch immer Hypochonder, das nimmt mir viel Lebensqualität. Die ganze Zeit, in der ich darüber nachdenke, ob ich Krebs habe, könnte ich auch etwas Schönes machen.

Und wenn Sie wirklich Krebs hätten…
Lorenz: …wäre ich nicht besser vorbereitet, nur weil ich die ganze Zeit gegrübelt habe.

Wie hält es ein Hypochonder bei Rammstein aus? Alle paar Sekunden explodiert oder brennt etwas auf der Bühne.
Lorenz: Das ist mir völlig egal. Hypochondrie besteht aus diffusen Ängsten. Das Feuer auf der Bühne ist eine konkrete Gefahr, damit kann ich umgehen. Das Risiko, Krebs zu bekommen, kann ich nicht abschätzen, das der Explosion schon.

Und wenn Sie sich doch verbrennen?
Lorenz: Dann verbrenne ich mich halt. Die Angst lebt von der Ungewissheit. Ich habe zum Beispiel Angst, dass ein Flugzeug abstürzen könnte. Wenn ich genau wüsste, dass es abstürzt, bräuchte ich darüber nicht nachdenken.

Hatte der Ruhm keinen Einfluss auf die Ängste?
Lorenz: Ich habe die Theorie entwickelt, dass durch den Erfolg mein Stottern wegging. Die Bestätigung von außen hat die innere Unsicherheit gemindert. Aber vielleicht ist das auch Küchenpsychologen-Quatsch.

Hilft Alkohol gegen Angst?
Lorenz: Alkohol hilft wunderbar, und das macht ihn gefährlich. Man ist nicht mehr schüchtern, nicht mehr verklemmt, hat keine Angst und kann schlafen. Für Leute wie mich ideal.

„Nüchtern erlebte ich kein sexuelles Abenteuer“, sagen Sie im Hörbuch.
Lorenz: Und es ist wahr – ohne den Alkohol habe ich nachgedacht, ob es sich lohnt. Betrunken waren mir die Konsequenzen, die Sex hat, egal.

Was ist denn das Problem?
Lorenz: Alkohol ist nur in Maßen gut. Du hast keine Kontrolle.

Half es gegen die Unsicherheit, solche Rampensäue wie Till Lindemann bei Rammstein oder Aljoscha Rompe bei Feeling B vor der Nase zu haben? Da standen Sie nicht mehr so unter Beobachtung.
Lorenz: Die sind genauso schüchtern wie ich. Till hatte als wir anfingen große Schwierigkeiten, sich auf die Bühne zu stellen und zu singen. Aber es beruhigt mich, in einer Band zu spielen. Die Aufmerksamkeit verteilt sich.

Stimmt es, dass Sie Festivalshirts, die Sie umsonst bekommen, jahrelang anziehen?
Lorenz: Heute ausnahmsweise nicht, sonst immer.

Als Mitglied einer der größten Rockbands der Welt sollte man genug Geld für ein T-Shirt haben.
Lorenz: Wenn ich T-Shirts geschenkt bekomme, ist es doch sinnlos, welche zu kaufen. Und dann ist da noch was.

Na?
Lorenz: Ich kann auf den Festivalshirts nachschauen, was in dem jeweiligen Jahr angesagt war. Auf den alten Hemden stehen wir in kleiner Schrift ganz unten. Rammstein ist über die Jahre auf den T-Shirts hochgeklettert, jetzt steht der Name ganz dick oben. Natürlich würde ich nie ein Reklame-Hemd der eigenen Band anziehen.

Aber wenn, dann würden Sie wahrscheinlich eines von Feeling B als tragen. Sie erzählen im Buch voller Inbrunst von den Konzerten in der DDR.
Lorenz: Wir haben als Dilettanten eine Band etabliert, das war ein absoluter Bruch mit dem DDR-Rock. Feeling B war musikalisch bedeutungsvoller als es Rammstein jetzt ist. Wir waren in der DDR die ersten, die sich getraut haben, auf große Bühnen zu gehen, ohne das Handwerk zu können.

Was war Ihre Botschaft?
Lorenz: Wir sind eine Band – genauso wie ihr, obwohl wir nicht studiert haben. Das war ein großer Schritt. Dagegen ist Rammstein eine normale Band – mit ein bisschen Pyro (lacht).

Wie haben die Profi-Bands reagiert?
Lorenz: Es gab steinreiche Mucker, die hatten einen Wagen aus dem Westen und trugen Stonewashed-Jeans. Mit so einer Band haben wir im Haus der jungen Talente in Ostberlin gespielt. Die sagten: ‚Wir sind die Hauptband, ihr müsst vor uns spielen!‘ Trotzdem war es bei unserem Auftritt rappelvoll, der Saal hat getobt. Und als die anfingen, sind alle weg. Die hatten eine Lichtshow, viel Nebel und fünf Mal so viel Boxen wie wir. Die Typen haben die Welt nicht mehr verstanden. Da prallte Gigantomanie auf einen völlig leeren Raum.

Auch Feeling B haben sich Bühnenshows einfallen lassen.
Lorenz: Aber total dilettantisch. Wir wollten das Gegenteil von Inszenierung. Andere haben vorm Auftritt ihre Westklamotten angezogen, wir trugen immer dasselbe.

Sind Sie Punk geblieben?
Lorenz: Ich versuche, die Punk-Idee in manchen Bereichen zu leben, aber nicht in der Band. Das geht nicht mehr. Wenn wir auf Tour gehen, fahren 20 Trucks hinterher. Rammstein ist ein schwerfälliger Koloss verglichen mit Feeling B. Wenn vor uns eine Band mit drei Jungs auf die Bühne geht und das Stadion rockt, stünden wir genauso dumm da wie früher die Ostrockbands.

Sie identifizieren sich also noch mit dem Punk von früher.
Lorenz: Ja, und deshalb verstehe ich auch die Punks von heute, die sagen – ach nee, diese ganze Inszenierung bei Rammstein, das will ich nicht.

Sind Sie nicht zu sensibel, Teil einer Heavy-Metal-Band zu sein?
Lorenz: Nein, mir geht es total gut! Das ertrage ich viel besser, als wenn ich zum Beispiel Chirurg geworden wäre.

Warum?
Lorenz: Ich wäre nicht damit zurechtgekommen, wenn jemand stirbt. Auch als Altenpfleger wäre ich kaputtgegangen, da hätte ich dauernd Mitleid gehabt.

Gibt es im Heavy Metal kein Mitleid?
Lorenz: Es heißt immer, Heavy-Metal-Fans sind die mental gesündesten. Da muss ich kein Mitleid aufbringen, die haben alle Spaß. Da begegnen mir Tod und Krankheit nicht.

Im Privaten schon.
Lorenz: Ja, ich ertrage es noch nicht mal, wenn eine Katze von mir krank ist. Eine ist schon gestorben, ich habe wochenlang geflennt. Ich denke oft darüber nach, was ist, wenn meine jetzige Katze stirbt. Wie vergrabe ich sie? Wie gehen meine Kinder damit um?

Hilft Naivität im Leben?
Lorenz: Wenn ich nicht gerade grübele, dann schon. Ich mag meine Naivität. Wäre ich nicht naiv, würde ich mich viel weniger freuen.

Aber Sie kennen die Schattenseiten, im Buch ist die Rede von hohen Schulden. Sie hatten sich mit ihrer Liebe zu Oldtimern verzettelt und mit dem ersten Plattenvertrag von Rammstein.
Lorenz: Na und – so viele Menschen haben Schulden. Auf lange Sicht lebe ich glücklicher, als wenn ich ständig alles berechnen und in Frage stellen würde. Ich kann mich über Dinge freuen!

Info Das autobiogfische Buch „Der Tastenficker: An was ich mich so erinnern kann“ ist gerade als Hörbuch erschienen auf vier CDs für 19,99 Euro.

Von Maurice Wojach