In der DDR versuchten wir, so international wie möglich zu denken. Wir hörten keine Ostsender, lasen keine Zeitungen, trugen keine Ostanziehsachen und nahmen am öffentlichen Leben nicht teil. Wir gingnen nicht zur Wahl und freuten uns, als in der BRD die SPD gewählt wurde. Wir kannten die internationale Punkszene wahrscheinlich besser als die Protagonisten selbst. Mit aller Kraft versuchten wir an Westinstrumente zu kommen, um auf ihnen tage- und nächtelang zu spielen.
Meistens war ich alleine, probierte die ganze Nacht auf irgendwelchen geborgten Instrumenten herum und nahm jede entstehende Idee auf einen Kassettenrecorder auf. (Kennt Ihr übrigens das Spiel: Der König macht Kaffee, aber keine Milch? Da kam dann auch der nette Satz: Der König mag Kassetten aber keine Tonbänder. Für Langsame: Er steppt dazu, obwohl er eigentlich nicht gerne tanzt.) Auf meinen Kassetten war dann jedenfalls eine Menge Musik, die ich mir auch gerne anhörte. Selbst einige Freunde waren nur zu kurzen Anhörungen zu bewegen. Ich brauchte lange Zeit dazu, um zu begreifen, dass ein Lied erst ein Lied wird, wenn dazu gesungen wird. Sogar eine Phantasiesprache erreicht den Hörer besser als jedes Instrumental. Also klemmte ich mir ein Mikrofon zwischen die Knie und nuschelte leise hinein, um die Nachbarn nicht zu beunruhigen. Ich hatte schon beim hören meiner Bluesplatten mitgesungen und mir so den nötigen englischen Wortschatz angeeignet. Auf einmal musste ich jetzt wirklich einigen Liedstrukturen folgen und so entstanden so etwas ähnliches wie Lieder, die sofort interessanterweise auf den Hörer wirkten. Das Problem war nur, dass ich meine Stimme vom Band nicht ertragen konnte und erst recht nicht dabei sein konnte, wenn meine Stimme ertönte und Freunde dabei waren. Also musste ich meine Kassetten abgeben und hoffen, dass die Leute sich das anhören. Glücklicherweise wirkte meine Stimme auf andere nicht so wie auf mich. Höchstens auf die, die Englisch verstanden und sofort an meinem Geisteszustand zu zweifeln begannen. Also versuchte ich deutsche Texte zu machen. Da fiel mir auf, dass ich nichts zu sagen hatte. Ich hatte keine Botschaft, die ich der Welt übermitteln wollte. Ich war noch nicht verliebt, noch nicht getrennt und hatte keine Ahnung von irgendetwas. (Später, als ich das alles erlebt hatte, fiel mir allerdings auch nichts ein.)
Der Verlag 2001 veröffentlichte ein Buch mit den Texten der Rolling Stones mit deutscher Übersetzung. Wollte man einen englischen Text machen, suchte man sich einfach einige Zeilen aus verschiedenen Titeln heraus und setzt sie neu zusammen. Dazu musste man der englischen Zunge nicht mächtig sein. In deutsch ging es genauso, man schlug das Buch auf und schrieb such wahllos eine Zeile aus der Übersetzung nach der anderen heraus. Lustigerweise waren im Buch noch einige Alternativübersetzungen, obwohl ich das Wort "alternativ" zu der Zeit noch nie gehört hatte. Jumping Jack Flash hieß dann Flitzer Hans Blitz. Jedenfalls bastelte ich auf diese Art einige Texte zusammen, und diese waren nicht schlechter als die späteren, die durch Nachdenken entstanden. Ich fand dann Gedichtheftchen von DDR Lyrikern und sang diese Sachen auf meine Musik. Wenn mir eine Strophe nicht gefile, ließ ich sie weg. Niemand hat mir etwas über Urheberrechte oder solchen Quatsch erzählt. Paul griff auf Volksliedgut zurück oder Poesie wie Nils Randers. ("Sag Mutter es ist Uwe!" Oder sogar: "Sag Mutter's 's Uwe!"). In der Band machte Aljoscha die Texte und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Die Qualität konnte ich nicht einschätzen, war aber bereit über alle geschmacklichen Entgleisungen hinwegzusehen, zumal die Neue Deutsche Welle die Hemmschwelle ziemlich herabgesetzt hatte. "Ich find dich scheiße" von Tic Tac Toe erschien erst zehn Jahre später.
Als dann die Wende kam, kehrte sich alles um. Jetzt versuchte ich so zu tun, als wäre alles wie immer — und auf einmal wollte ich Ostdeutscher sein. Ich wusste, dass unsere Musik im wirklichen Leben sehr provinziell wirkte und wollte es nicht wahrhaben. Die Ärzte haben so gute Lieder gemacht und so gut waren wir einfach nicht. Aber wir waren Ostler., 1993 hatten wir dann ein Problem. Wenn wir früher eine Platte aufnahmen, wählten wir einfach einige Titel aus unserem Repertoire aus und nahmen diese auf. Nach der dritten Platte waren aber die Titel alle. Jetzt sagt man wohl: die Titel waren aus. Es waren keine mehr über. Jedenfalls hatten wir keine Lieder mehr und mussten also welche machen. Paul und ich musizierten fleißig, aber was nützt das ohne Text. So opferte ich meine privaten Nachttexte, da diese auf einer alten Kassette wohl niemandem nützen würden - und so wurde vielleicht doch noch ein richtiges Lied daraus.
Langeweile war so ein Text. Ich wollte einfach entgegen besseren Wissens behaupten, dass alle großen Erfindungen und Entscheidungen nur aus Langeweile entstanden. Dann machten wir noch den Refrain mit dem Fernsehen dazu, weil Fernsehen in unseren Augen das langweiligste ist, was wir uns vorstellen konnten. Auch wenn es niemand glaubt, wir hatten alle keinen Fernseher. Ich habe seit einem halben Jahr erst eine TV-Karte für den Computer. Ich wollte bei Gravis meinen Laptop reparieren lassen und da muss man sich in den Computer eintragen wie man heißt und was man für ein Problem hat. Dann wird an die Wand projiziert, wer als nächster dran ist. Bis ich das gemerkt hatte, war meine Nummer schon abgelaufen und ich musste mich neu anmelden. Als ich diesmal dran war, drängelte sich jemand vor, und der Schalterangestellte dachte, dass ich das war und löschte mich wieder. Die nächste halbe Stunde wartete ich an einem Regal mit diesen TV-Karten. Aus Spaß fragte ich einen Vorübergehenden, ob man damit richtig fernsehen kann. Er fragte mich, was denn sonst ich damit machen wolle. Mich rasieren? Ich nahm meine Ahnung zusammen und fragte sachkundig, ob auch eine Antenne dabei sei. Unglaublich aber wahr, es funktioniert! An diesem Tag ging ich früh um halb sechs ins Bett, als die "Jugendrichterin" vorbei war. Jetzt gehe ich schon bewusster damit um. Ich wollte nur erklären, dass ich in der Zeit, als wir das Lied machten, Fernsehen für das allerletzte hielt. Und ich machte mich darüber lustig, da ich nicht fernsah, aber darüber sang. Es sollte nur eine Gesangsvorlage für Aljoscha sein, da er ja der Sänger war. Aber er wollte es nicht singen, was ja auch klar war, denn wie soll er sich mit so einem Text identifizieren? Außerdem sang er gar keinen Text mehr, da wir auch keine Platte mehr machten und uns auflösten. Dabei hatten wir aber alles schon vorbereitet. Aber Lieder werden nicht schlecht wie Milch, es sei denn, sie beziehen sich auf einen aktuellen Anlass wie etwa eine Fussballweltmeisterschaft.