"Frag mal den Doktor!" (interview)

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Lange genug brodelte die Gerüchteküche um das dritte Rammstein-Studioalbum "Mutter". Orkus traf einen gut gelaunten Christian Lorenz alias Flake im Münchner Hotel Palace und verlangte Klarheit.

Hinter vorgehaltener Hand war im Vorfeld der Veröffentlichung schon so einiges geflüstert worden: Von Querelen innerhalb der Band, von Schwierigkeiten mit der Plattenfirma und einem Album, das einfach nicht fertig werden wollte, war zu hören. Angeheit wurde das Ganze auch durch die Hand voll Songs, die bereits im Juni 2000 einer Auswahl von Journalisten in den belgischen Galaxy-Studios vorgestellt wurden (Orkus berichtete in Heft 12/01/00/01). Die präsentierten Stücke nämlich klangen alle schon ziemlich veröffentlichungsreif, doch nun ist auf der Vorabsingle und dem Album das MVG Studio in Stockholm als für den Mix verantwortlich genannt. Fragen über Fragen...
"Als wir von Belgien nach Berlin zurückkamen, haben wir die fertigen Mixe auf unseren Heimatanlagen angehört und festgestellt, dass der Sound nicht annehmbar war", so Keyboarder Flake. "Die Titel hatten viel mehr Potential, als auf diesen Mixen zu hören war. Da hatten wir uns so viel Mühe gemacht, zuerst im Studio Miraval in Frankreich, dann während der Zeit in Belgien, ein ganzes Jahr Arbeit, und nun klang das fertige Produkt noch nicht einmal so richtig gut. Wir entschlossen uns also zur Nachbesserung. Die weltberühmten Ingenieure sind allerdings bis 2004 ausgebucht, und die anderen - na ja, das sind eben die anderen; was dabei herauskommt, hatten wir ja gesehen. Wir wollten aber gerne einen guten, deshalb mussten wir noch ein bisschen warten, bis sich einer erbarmte und uns dazwischenschob. Wir zogen also mit Sack und Pack nach Stockholm. Der Mixer (Stefan Glaumann - Anm.d.Verf.) dort war sehr gut - und sehr langsam. Er brauchte für einen Titel fünf Tage, und dann zwei freie Tage. In Stockholm wurde es erst um zehn Uhr hell, un um zwei wieder dunkel. Wir waren ein Vierteljahr da, bis Weihnachten, es war deprimierend. In der ganzen Zeit gab es anderthalb Tage Sonnenschein. Wir haben wirklich gelitten. Denn man konnte sich dort auch nicht einfach etwas mieten, weil alles so teuer ist und es keine freien Wohnungen gibt. Als wir endlich eine ergattert hatten, war die von einem alten Ehepaar, das gerade gestorben war. Der Sohn hat uns das Apartment vermietet, weil er es sich nicht leisten konnte, es leer stehen zu lassen. Gleichzeitig durfte nichts in der Wohnung verändert werden, denn er kam noch nicht über den Tod seiner Eltern hinweg. Da lagen also noch die Nachthemden der alten Leute herum, alles so, als wären sie nur kurz weggegangen. Wir haben dann ausgemacht, dass niemand allein in der Totenwohnung bleibt. Man musste zu dritt sein, um dem Geist der Wohnung ein bisschen entgegenzuwirken. Diese Zeit war wirklich eine Erfahrung, aber für das, was das Studio aus den Songs herausgeholt hat, hat es sich gelohnt."
Wie es scheint, handelte es sich also wirklich nur um eine technische Verzögerung. Stimmen, die taktische Gründe vermuteten, damit die Band nicht mitten in die Diskussion über rechtsradikale Gewalt geriete, wie sie 2000 das "Sommertheater" belebte, erteilt Flake eine klare Absage: "Wir wären um jeden Tag früher froh gewesen. Nachdem wir das ganze letzte Jahr sehr abgeschottet an dem Album gearbeitet hatten, waren dies noch nicht mal die wildesten Gerüchte. Mehrmals wurde vermutet, dass wir uns aufgelöst hätten, doch davon war überhaupt nicht die Rede, es gab noch nicht einmal Streit. Natürlich haben wir um jeden Song gerungen, aber miteinander, nicht gegeneinander. Um das bestmögliche Ergebnis." Hinzu kam, so Flake, dass nach der letzten Amerikatour noch keine Kompsitionen für den Longplayer fertig waren: "Wir trafen uns vor Beginn der Aufnahmen für eine Dauer von zwei Monaten, zuerst in Berlin im Proberaum und in unseren Wohnungen, zu zweit oder zu dritt, haben probiert, geredet. Die Vorproduktion entstand dann in einer einsamen Villa an der Ostsee. Ein Vierteljahr lang, eine schöne Zeit. Man stand um acht oder neun Uhr auf, ging am Strand spazieren, probte bis 18 Uhr, aß zu Abend. Wir hatten sogar einen Freund als Koch mitgenommen. Danach noch einmal weiter bis um zehn, und vielleicht noch in den Studentenclub bei der Kunstschule. Fernsehen gab es nicht, es war ein leer stehendes altes Haus. Ich habe es sehr genossen." Die klösterliche Abgeschiedenheit während der Produktionsphase kam den Stücken sehr zugute, neben dem bislang unerreicheten Detailreichtum fallen ganz neue Elemente wie die Euro-Dance-Akkorde bei "Ich will" oder "Nebel" als erste "Rammstein-Ballade auf. Flake: "Wir hätten es gerne noch experimenteller gehabt, noch ausgefallener. Aber wir können nicht aus unserer Haut. Trotzdem war es uns wichtig, ein Album zu machen, bei dem nicht jeder sagen kann, wir spielen wie vor fünf Jahren. Deshalb haben wir uns richtig Mühe gegeben, einen etwas anderen Farbton hineinzubekommen. Aber wir klingen immer wie Rammstein." Ein wenig enttäuscht wirkt er, und das gibt der Keyboarder auch zu: "Ich hätte mir mehr Mut gewünscht, etwas ungewöhnlichere Sachen, vielleicht mal ein Stück ohne Gitarre." Doch weder die anderen mitglieder noch Druck von Seiten der Plattenfirma seien Schuld gewesen: "Wir haben viel ausprobiert, aber nichts davon war wirklich der Knaller. Leider." Flakes Lieblingssong, obwohl er sich nach der langen Produktionsdauer als "betriebsbling" bezeichnet, ist zum Zeitpunkt des Gesprächs "Zwitter": "Der ist so lustig." Ansonsten bevorzugt er derzeit "Entspanntes" wie Tarwater.
Nichts dagegen hält er von den Remixen, auch nicht von denen der eigenen Songs, wie den Clawfinger-Remixen der Vorab-Single "Mutter": "Mit Clawfinger sind wir zwar schon seit Jahren befreundet und waren mit ihnen öfter auf Tour. Deshalb lag es nahe, zumal sie im selben Studio in Stockholm arbeiten und ihr Mixer auch der unsere ist. Es war sozusagen der ganz kurze Dienstweg. Aber generell finde ich Remixe nicht gut. Früher enthielt jede Single drei verschiedene Stücke. Auch viele Fans sind wohl auch deshalb genervt, weil sie schließlich eine Rammstein-Single kaufen wollen und nicht zusätzlich Songs anderer Bands, die ihnen gar nicht gefallen. Eigentlich müsste ich ja sagen, ich finde das ganz toll. Aber ich halte es für ziemlich überflüssig.“ Auch in Sachen Filesharing und MP3 geht er so gar nicht konform mit der offiziellen Meinung der meisten Plattenfirmen. Trotzdem werden die Tracks auf dem für die Einkäufer und Journalisten gedachten Promo-Album nach drei Minuten ausgeblendet. "Aber das hat ja nichts gebracht; ich habe gehört, die Songs können bei Napster runtergeladen werden", grinst Flake. "Ich finde es gut, dass es so etwas wie Napster gibt. ln ein paar Jahren werden.wohl gar keine CDs mehr verkauft. Sie sind dann überflüssig. Wenn man sich einfach nur die Lieder runterladen kann, die man möchte, und einzeln bezahlt, würde ich das sehr begrüßen. Für die Plattenfirmen ist das natürlich das Todesurteil, weil zum Beispiel der Vertrieb wegfällt. Die fürchten um ihre Jobs. Ich würde es trotzdem gut finden, weil ich oft das Gefühl habe, dass die Bands gezwungen sind, drei, fünf oder zehn Alben zu machen, weil sie einen Vertrag unterschrieben haben. Richtig Lust haben sie nicht mehr, und deshalb ist nur ein Song auf der Platte gut, der wird die erste Single. Ein zweiter ist so halb gut, der wird.die zweite, der Rest sind Füller. Ich habe so viele Alben zu Hause, die ich nie mehr anhöre, weil sie eigentlich Dreck sind. lch nenne jetzt aber keine Namen, sonst sind alle beleidigt. Mir würde es besser gefallen, wenn man die Lieder Titel für Titel veröffentlichen könnte und nicht immer ein ganzes Album abliefern müsste. Und für die Fans wäre es auch besser, sie könnten sich ihre CDs so zusammenstellen, wie sie wollen. Ich sehe sowieso nicht ein, dass eine CD aus der Firma für zwölf Mark rausgeht, und im Laden kostet sie dann 38 Mark. Wo zwischendurch das Geld bleibt, weiß keiner so genau."
Er wirkt entspannt, gelöst, obwohl Rammstein derzeit reichlich im Stress sind: Gerade kommt die Band von einem Abstecher nach Australien zurück, das Album wurde in New york gemastert, wo Richard Knuspe (nun Kruspe-Bernstein) mit seiner Frau zeitweise wohnt. Nach den zwölf Dates in Deutschland steht dann wohl wieder eine Amerikatour an, Formationen wie Pantera oder Marilyn Manson sind als Package-Partner im Gespräch. Flake, der in der DDR aufgewachsen ist, genießt es, in der Welt herumzukommen: "Obwohl ich Flugangst habe. Doch als wir nun für die Big Day Out-Tour in Australien waren, musste ich sie mir abgewöhnen. Dort ist alles so groß, da fliegt man selbst zum Konsum." Und auch seine Englischkenntnisse sind, wie er zugibt, nicht so besonders: “Ich kann englische Bücher nur lesen, wenn ich die Geschichte auf Deutsch schon gut kenne. Aber ich lese gerne und viel, besonders während der langen Wartezeiten auf Tour."
Augenblicklich ist die Truppe in kleinen Grüppchen über ganz Europa verteilt, um die Promo-Dates für das neue Album zu absolvieren. ln der ganzen Hektik kam die, ursprünglich vor den großen Hallenauftritten geplante Clubtour zu kurz, was Flake sehr bedauert: “Wir hätten wirklich gerne vorab eine kleine Tour gemacht. Das wäre sehr wichtig gewesen, denn die meisten Effekte entstehen während der Auftritte, nicht am Schreibtisch. Manche Sachen, wie das mit dem Boot, kann man sich nicht ausdenken: Aus Spaß hat jemand mal ein Badeboot mitgebracht, und seitdem war der Effekt da.“ Wie das neue Set aussehen wird, darüber kann er sich nicht äußern: “lch würde ja gerne etwas sagen, wenn ich ein bisschen mehr wüsste. Wenn wir mit der Promotion fertig sind, treffen wir uns in Berlin, um die Bühnenshow zu entwerfen. Wir machen das selbst und beauftragen keine Firma dafür. Aber die Zeit ist knapp."
Eines muss er zum Schluss noch verraten: In den Liner-Notes zum neuen Album steht er als "Doktor Christian Lorenz" verzeichnet. Hat er neben all der Arbeit noch promoviert? Flake strahlt über das ganze Gesicht: "Als Kind wollte ich Chirurg werden. Das habe ich der Band erzählt, und die sind vor Lachen in die Ecke gefallen. Weil ich nicht der Ruhigste bin. Mir zittern schon manchmal vor Aufregung die Hände. Ich werde leicht hektisch. Die fanden das so absurd, dass mir der Name geblieben ist. Frag mal den Doktor..."